Vasaloppet 2014, am 02.03.2014 in Schweden

  • http://www.vasaloppet.se


    Teilnehmer:


    NAME: Nikolaus Wrage
    RACE: Vasaloppet
    START NUMBER: 10060
    START GROUP: VL10
    BIB PICK UP PLACE: Mora


    Nach wochenlangen Wochenend-Training unter erschwerten Bedingungen (kaum Schnee in Deutschland) wird Nikolaus morgen zum 90 km Klassik-Skilanglauf in Schweden antreten.
    Aufgrund seines erfolgreichen Abschlusstrainings letztes WE über 73km, bin ich guter Hoffnung, dass er die Distanz schafft.


    Respekt! Guten Lauf, Nikolaus.

  • Vielen Dank für die guten Wünsche. Ich werde
    mein Bestes geben und nach dem Lauf informieren,
    wie es mir ergangen ist. Ein Bericht ist auch in
    Arbeit. Nun muss ich aber schon ins Bett, denn um
    2:30 Uhr ist die Busabfahrt zum Start. Mein Wecker
    ist auf ein Uhr gestellt...
    Viele Grüße! N.

  • Mittwoch, 26. Februar 2014: Abreise nach Schweden
    Da ich mir in den Kopf gesetzt habe, beim ältesten und längsten Skimarathon der Welt, dem Vasaloppet über 90 Kilometer von Sälen nach Mora in Schweden, teilzunehmen, sitze ich im Flugzeug Richtung Stockholm. Ich lasse ich den Blick schweifen. Viele Männer mit sehr hohem Stirnansatz. Alle reden übers Wachsen. Einer spricht auch mich an. Verwegen rede ich über die zu erwartende Schneetemperatur, als verstünde ich etwas von der ganzen Sache. Gottseidank fragt er nicht weiter. Ich denke an die letzten acht Wochenenden: 12 Flug-, 40 Auto- und 5 Trainerstunden, 450 Km gefahrene Loipenkilometer. Was für ein Aufwand für eine Idee. Hoffentlich hat es gereicht.



    Donnerstag, 27. Februar 2014: Erste Schritte
    Der Wecker klingelt um sechs Uhr morgens. Hinter mir liegt meine erste Nacht in einem Hüttendorf in Rättvik, drei Busstunden von Stockholm entfernt. Um acht Uhr ist Abfahrt zum ersten Training. Es ist warm. Der Schnee ist pappig. Außerdem fehlen noch die Loipen. Aber das wird noch kommen, denke ich. Am Abend werden die Startnummern vom Reiseveranstalter im Hüttendorf mit viel Tamtam ausgegeben. Der beste Starter der Gruppe aus dem letzten Jahr berichtet über seine Erfahrungen. Wachsprobleme hat er nie, denn die Gleitzone sei ja klar (Aha?) und die Steigzone bekomme höchstens einen kleinen Kick – „den Rest regelt man über die Oberarme“. Aha. Alle schauen ihn neidisch an. Ansonsten sei das größte natürliche Hindernis beim Vasalauf der erste Berg direkt nach dem Start. Wenn alles normal laufe, brauche man für diese drei ersten Kilometer eine Stunde Zeit. Die im hinteren Feld müssten schon sehr aufpassen, dass sie die Deadline bei der ersten Zwischenzeit nicht überschritten, sonst würden sie aus dem Rennen genommen. Da seien die Schweden rigoros. Ich werde im letzten Startblock stehen. Mir wird schlecht. Mit einem Gebirge aus Zweifeln schleiche ich ins Bett. Ich muss im Schnitt mindestens 7,5 Km/h laufen, sonst bin ich erledigt.



    Freitag, 28. Februar 2014: Warten, Teil 1
    Ich beschließe, mich für den Vasalauf zu schonen und kein weiteres Training mehr zu absolvieren. Meine Mitbewohner im Hüttendorf, ein Pärchen aus Cottbus und sehr gute Skiläufer, sehen das auch so und helfen mir bei der Wachspräparation. Erst einmal steht das Reinigen der Skier an. Notwendig, aber es gibt wahrscheinlich Spannenderes. Allerdings verspricht er, mir am nächsten Tag etwas von einem geheimnisvollen und sündhaft teuren Wachsgranulat für die Gleitzone abzugeben. Das Zeug ist ein weißes Pulver und soll wahre Wunder bewirken. Ich bin sehr angefixt und will unbedingt etwas von diesem Ski-Kokain abhaben. Vielleicht fährt der Ski dann ja von ganz allein? Den Rest des Tages ist mir langweilig. Draußen wechselt Schneeregen mit Nurregen bei Temperaturen um die Null Grad ab. Alle verbringen viel Zeit an ihren Smartphones und suchen nach den Wetterprognosen. Ich verziehe mich in mein Zimmer und mache das auch. Am Sonntag sollen es Minus 5 Grad sein, das wäre gut. Ansonsten hat man viel Zeit zum Nachdenken. Wie komme ich überhaupt hierher?


    Rückblick: Der Januar (4./5., 11./12., 18./19., 25./26.1.2014)
    Alles beginnt in Oberstdorf. Mit Leih-Schuppenskiern und Leih-Schuhen komme kaum von der Stelle. An meinen Fersen haben sich Blasen in Größe und Form von Australien entwickelt. Laufe an zwei Tagen 40 Km in knapp sieben Stunden. Indiskutabel. Ich muss unbedingt mehr trainieren. Die nächsten drei Wochenenden verbringe ich in Ramsau am Dachstein. Am ersten Samstag melde ich mich bei einem 25-Km-Wettkampf an. Als Viertletzter komme ich nach über 2,5h an und erkläre meine Fersen umgehend zum Krisengebiet. Ich nehme ich eine Trainerstunde und frage den Mann: Warum komme ich kaum von der Stelle? Der Skilehrer sagt, ich solle erst mal zeigen, was ich kann. Also zeige ich, was ich kann und rede über den Vasalauf. Als er ausgelacht hat, schüttelt er den Kopf und zeigt mir, wie man einen Skistock richtig hält. Als mich der Trainer am zweiten Samstag wiedersieht, bekommt er einen mitleidigen Zug um seine Augen. Ob ich denn wirklich schon für Schweden gemeldet sei? Die anderen Skilehrer grinsen. Am vierten Wochenende fahre ich am Samstag knapp 40 Kilometer und merke, dass die Situation meiner hinteren Fußenden zunehmend erfolgskritisch wird: Wenn mir für meine Fersen nicht bald etwas einfällt, muss ich das Vorhaben schon aus medizinischen Gründen absagen. Am letzten Sonntag im Januar entschließe ich mich, einen anderen Skilehrer auszuprobieren. Habe keine Lust mehr auf das hämische Gelächter hinter meinem Rücken. Bei der Konkurrenz teilt man mir eine Skilehrerin zu. Ich hüte mich, ein Sterbenswörtchen über den Vasalauf zu verlieren. Die kleine Frau wirkt nett, erweist sich aber schnell als bösartig, denn sie zwingt mich, meine Skistöcke wegzulegen. Sie redet irgendwas über Gleichgewicht und Gleiten und dass ich auf einem Bein bei voller Fahrt „Einundzwanzig, Zweiundzwanzig, Dreiundzwanzig“ zählen soll. Aber ich falle ständig hin, mit dem vielen Schnee im Mund fällt das Zählen schwer. Bin sehr ernüchtert. Aus purem Trotz melde ich mich aber zu Hause sofort für den 50-Km-Koasalauf in St. Johann/Tirol an und buche die Flüge dazu nach Salzburg. Es muss ja weitergehen.


    Samstag, 1. März 2014: Warten, Teil 2
    Wieder so ein Hüttentag. Wir verbringen viel Zeit mit Wachsen und der Vorbereitung der Steigzone. Dazwischen ausgiebig ausruhen, abends nochmal einkaufen, Nudeln essen, ins Bett gehen. Das ist es auch schon. Abfahrt wird um 2:30 Uhr in der Nacht sein, also Aufstehen um ein Uhr. Ich zweifele, ob es wirklich nötig ist, so früh abzufahren. Ansonsten passiert nicht viel. Wieder viel Zeit, das Vergangene zu resümieren.


    Rückblick: Der Februar (1./2., 8./9., 15./16., 20.-23.2.2014)
    Der zweite Monat meines Skitrainings beginnt in Oberhof, aber das Problem ist dasselbe wie in Ramsau. Egal wie optimistisch ich meine Leistungen auf der Lauf-App interpretiere, kommt bei allen Prognosen heraus, dass ich die 90 Km Vasaloppet wahrscheinlich nicht in den zulässigen 12 Stunden schaffen würde. Da mir nichts Besseres einfällt, lege ich die Stöcke ab und beginne, auf einem Bein in voller Fahrt „Einundzwanzig, Zweiundzwanzig, Dreiundzwanzig“ zu zählen. Vielleicht hatte die kleine böse Frau aus Ramsau ja doch Recht und ich gleite noch nicht genug. Erst nach gut eineinhalb Sunden geht der Knoten auf und es klappt endlich. Zurück in Berlin, erfahre ich, dass der Koasalauf wegen Föhn abgesagt worden ist. Also am Wochenende drauf wieder Ramsau. An diesem Samstag, wir schreiben den 8. Februar, kommt in zwei Punkten die Wende: Ich verpacke meine bepflasterten Fußenden straff in Frischhaltefolie und schmiere Vaseline drauf. Es funktioniert – keine neuen Blasen. Und ich gleite viel länger einbeinig in der Loipe als vorher. Ich beginne zum allerersten Mal, Leute zu überholen. Ein erhebendes Gefühl nach all den Qualen. Ich laufe 50 Km bei strahlendem Sonnenschein in knapp 5 Stunden und mache damit meinen eigenen Koasalauf. So könnte auch der Vasalauf klappen! Das nächste, insgesamt dann siebte Wochenende verbringe ich wieder in Oberhof und verbringe die Zeit bei Dauerregen mit Einbein-Gleitübungen und ein bißchen langlaufen. Trainingsalltag für uns Skilangläufer ;) Beim letzten Trainingswochenende sage ich ein letztes Mal: Hello again Ramsau! Das finale Wochenende vor dem Vasalauf wird ein verlängertes zusammen mit Bea. Wir laufen klassisch und gönnen uns Unterricht im Skating – eine Fortbewegungsart, die es auch in sich hat. Am Freitag, den 21.2., klinke ich mich für 6 Stunden und 40 Minuten aus. In dieser Zeit laufe ich 73 Kilometer. Bei sehr warmen Temperaturen und sulzigem, langsamen Schnee. Hochgerechnet auf 90 Kilometer, müsste diese Leistung bei ähnlich schlechten Bedingungen theoretisch eine Endzeit von 8:30 bis 9:00 Stunden ergeben. Bei besseren äußeren Umständen auch eine schnellere. Theoretisch.



    Sonntag, 2. März 2014: Der Vasaloppet
    Der Wecker klingelt um ein Uhr. Ich fühle mich matt. Das ist nicht meine Zeit. Ein Blick aus dem Fenster und auf die Wetterprognose bringt das Blut in Wallung: Null Grad und Neuschnee. Worst Case. Der in Erwartung von Altschnee auf der Steigzone aufgetragene Klister (eine Art Honig aber deutlich klebriger) wird auf die frischen Schneekristalle wie ein Magnet wirken. Ruckzuck wird ein Schneemassiv unter den Füßen kleben. Aus allen Hütten kann man unisono einen Schrei hören: Umwachsen! So gerät die Zeit bis zur Abfahrt um kurz vor drei Uhr zum hektischen hantieren. Auf der Fahrt nach Sälen berichtet der Reiseleiter, dass der geplante Abfahrtsort der Busse nach dem Vasalauf von den Organisatoren geändert wurde. Eine Karte mit dem neuen Standort der Busse wird durch die Reihen gegeben. Ich fotografiere sie einfach mit dem Handy ab, bin zu müde zum Karte merken. Mir fallen die Augen zu. Als ich aufwache, erreichen wir gerade Sälen. Die Temperatur und die Schneeverhältnisse sind dieselben wie im Hüttendorf. Wenigstens erspart dies ein abermaliges Umwachsen. Ich schaue aus dem Fenster. Es ist noch dunkel, aber das Tohuwabohu um uns herum ist deutlich zu sehen. Tausende Skilangläufer und Angehörige wuseln herum. 15.800 Starter sind für den Lauf angemeldet. Starten werden an diesem Morgen 14.611. Die restlichen 1.189 sind im Bett geblieben. Wie sich bald zeigen wird, waren sie schlauer.


    Das Startareal ist eine rd. 600-700 Meter lange Wiese, die in 10 Blöcke unterteilt ist. In den ersten neun Startblöcken starten jeweils rd. 1000 Läufer, im 10 Startblock der Rest, die Erstläufer und die Schlechten. Ich werde mich also zusammen mit 4.610 Läufern in meinem Block auf den Weg machen. Um 6:30 werden die 10 Blöcke geöffnet. Alle gehen geordnet nach ihrer Platzierung in der Warteschlange rein und legen die Skier so weit vorne wie möglich ab. Mogeln geht nicht. Jeder muss beim Eingang mit dem Chip über eine Matte und bei denen, die falsch stehen, leuchtet eine dicke rote Lampe auf. Diese Kandidaten müssen sich beim richtigen Gate neu anstellen. Das tun sich nicht viele an bei mehreren hundert Metern Warteschlange vor Gate 10.


    Um 6:31 Uhr habe ich einen guten Startplatz in der zweiten Reihe des 10. Startblockes ergattert, ca 4.500 Läufer hinter mir und 9.000 in den neun Startblöcken vor mir. Die frühe Anreise hat sich doch gelohnt. Denke ich. Ein paar Minuten später sitze ich wieder im Bus und versuche zu schlafen. Klappt natürlich nicht bei dem Gewühle um mich herum. Fünf Minuten vor acht Uhr klicke ich meine Schuhe in die Skier. Sieben Stunden nach dem Aufstehen fühle ich mich nur mittelgut und vor allem müde.


    Um zwei Minuten vor acht Uhr werden die Absperrungen zwischen den Startreihen aufgehoben. Sofort geht das Geschiebe los. Alles verdichtet sich zu einem riesigen Pulk. Um Punkt acht Uhr geht es für alle los. Man hat zwar einen Chip, aber es gibt nur die Bruttozeit. Wer hinten steht, hat Pech gehabt. Die Gesamtmasse aus 14.611 Menschen, 29.222 Skiern und 29.222 Skistöcken bewegt sich auf unebenem, rutschigem Boden vorwärts. Es gibt nur ein Gruppentempo für alle, für die einen zu langsam, für andere schon zu schnell. Erste Stürze links, rechts, vor und hinter mir. Die Masse bewegt sich ungerührt weiter. Erste Stockbrüche. Karbon zerbröselt offensichtlich wie Glas, wenn man es ungünstig touchiert. Gezeter, schwedisch, deutsch, englisch. Sekunden später alles wieder ruhig, jeder guckt konzentriert nach vorne, links und rechts. Und das gleichzeitig. Der mit dem Stockbruch bleibt zurück. Schade für ihn. Aber jetzt bloß nicht selbst fallen. Alles strebt auf den berüchtigten Berg zu, den man am Ende des Startareals schon sehen kann.


    Dann ist es soweit. 200 Höhenmeter auf ca. 1,3 Km Distanz. Die ersten zehn Meter gehen noch gut. Ab dann stockt es permanent. Minutenlang passiert auch schon mal wirklich gar nichts in Sachen weitergehen. Und dann auch nur Schritt für Schritt. Dazwischen viel Stehenbleiben, je steiler, desto mehr. Viele haben nicht genug Kraft in den Armen, um sich so zu halten. Sie rutschen zurück, in die anderen hinein. Weitere Stürze, weitere Stockbrüche. Gereizte Stimmung. Keiner will dem anderen etwas Böses, aber auch keiner will in diesem Chaos selber hinfallen. Die Sache beginnt schon am Berg, eine Schnittmenge zwischen Sport, Charakter und Philosophie zu werden. Dabei sind noch nicht einmal zwei Kilometer gelaufen. Aber die erste Stunde ist bald um. Ich denke an die Deadlines bei den Haltepunkten.


    Schließlich erwischt es mich. Jemand steht auf einem meiner Skier und ein anderer auf dem Teller einer meiner Stöcke. Ich trudele, das war´s. Hinter mir zwei Franzosen. Ob einer mir auf den rechten Stock getreten ist oder ich die Sache überwiegend selbst zu verschulden habe, weiß ich nicht, vermutlich letzteres. Jedenfalls ist mein Stock geknickt. Mir ist klar, dass ich damit den Vasalauf nicht absolvieren kann. Glück im Unglück: Ich habe natürlich die einfacheren Aluminiumstöcke, die auch verbogen noch restnutzbar sind. Ein Karbonstock wäre schon gebrochen. Meine Laune dennoch: ganz weit unten.


    Nach einer Viertelstunde die Rettung: Ein Servicepoint für Läufer mit gebrochenen Stöcken. Am Ende des Berges,. Die Schweden wissen schon, warum dort. Ich kann meine alten Geräte abgeben und ergattere ein Paar neue in der richtigen Größe. Freue mich nun darauf, endlich die restlichen 87 Kilometer in Angriff nehmen zu können.


    Meine Freude währt allerdings nur kurz, denn oben auf dem Plateau nach dem Anstieg fehlt etwas Wesentliches: die Loipe. Und ich meine damit wirklich fehlen. Nach rund 10.000 Läufern, die vor mir über die Strecke gelaufen sind und bei den warmen Schneeverhältnissen, ist alles, was mal Loipe war, zu einer breiigen Masse Sulzschnee geworden. An manchen Stellen auch mal vereist. Ein normaler Diagonalschritt ist da unmöglich zu laufen. Der Untergrund ist sehr uneben. Jetzt kommt es zu sehr vielen Stürzen. Auch mich haut es dreimal hin, und dann noch etwa zehn Beinahe-Unfälle. Das nervt gewaltig, frisst ohne Ende Energie. Ich frage mich, wann endlich die Loipe anfängt. Erhoffe sie nach jeder Biegung. Aber sie kommt nicht. Alle bewegen sich holprig mit Doppelstockschub vorwärts. Das verbraucht viel Kraft. Einige gehen in den Skating-Schritt über. Den kann ich noch nicht gut genug. Ich bin innerlich am Boden zerstört, denn mir wird klar, dass mein ganzes klassisches Langlauf-Gleittraining bei diesen Rahmenbedingungen vollkommen nutzlos war. Mein Konzept zur Bewältigung dieses Laufs benötigt zwingend eine Loipe und ist ohne selbige schlichtweg geplatzt. Ich bin drauf und dran, den Lauf abzubrechen. Tue es doch nicht, weil ich an den Aufwand denke und hoffe, dass die Loipe vielleicht doch hinter der nächsten Biegung beginnt. So hangele ich mich von Kilometer zu Kilometer im Doppelstockschub weiter. Da bin ich nun beim heiligen Gral des klassischen Skilanglaufs und dann fehlen die Loipen – das hatte ich mir wirklich anders vorgestellt.


    Bei der ersten der sieben Verpflegungsstellen in Smagan gibt’s die berühmte Blaubärsuppe noch nicht. Also nehme ich Saft und eines der Gels, die ich eingesteckt habe. Ich registriere, dass ich nach 11 Kilometern mit 5,9 Km/h bislang eine Geschwindigkeit habe, mit der ich irgendwann aus dem Rennen genommen werde, wenn sie nicht schneller wird. Was mich ein wenig beruhigt, ist, dass ich mich inmitten eines Pulks bewege, der nicht aussieht, als beherrschten seine einzelnen Teile den klassischen Skilanglauf nicht. Vielleicht ist das nach Vasaloppet-Maßstäben alles noch normal. Was mich auch beruhigt: Ich höre viele über die Pistenverhältnisse fluchen. Das ganze ist also nicht nur ein Nikolaus-Problem.


    Schließlich ist die Wahrheit: Bis Oxberg, 28 Km vor dem Ziel, gibt es keine Loipen. Nur manchmal vereinzelte 50-100 Meter lange, zerschrundene Loipenreste. Das wars. Bis dahin liegen also 62 Km fast nur Doppelstockschub hinter mir. Das ist für mich eigentlich kein klassischer Skilanglauf, sondern irgendwie eine andere Sportart. Ich akzeptiere aber, dass es halt nicht so geht, wie ich dachte. Die anderen tun es auch. Ab Oxberg fahren permanent Schneemobile die Strecke auf und ab. Sie ziehen während des Rennens die Loipen. Allerdings hat der Schnee eine Konsistenz von der Dauerhaftigkeit nassen Sandes. Wenn 50 Läufer durch eine dieser Loipen gerauscht sind, ist sie auch schon wieder weg. Deshalb hört das Motorengeräusch der Schneefahrzeuge auch bis zum Ziel in Mora nicht auf. Irgendwie bizarr. Aber besser als nichts. Immerhin kann ich auf dem letzten Viertel der Strecke meine Diagonal-Gleittechnik anwenden. Und wieder überhole ich einige Konkurrenten und vor allem: Ich kann endlich die Oberarme entlasten und mich im Diagonalschritt etwas erholen. Also hat sich mein Trainingsaufwand wenigstens ein bisschen gelohnt. Warum haben sie bloß die Loipen-Schneemobile nicht schon früher eingesetzt?


    Die Verpflegungsstände sind ordentlich organisiert. Ich halte mich an Milchbrötchen mit Blaubärsuppe. Damit fahre ich gut. Aber die Distanzen zwischen den Stationen sind schon etwas groß. Das geht offenbar nicht nur mir so. Überall auf der Strecke liegen Massen von leeren Gelverpackungen herum. Der Rand der Strecke ist immer wieder gesäumt von Läufern, die ihre eigenen Trinkflaschen nutzen. Rundumversorgung sieht anders aus. Dafür ist die Stimmung an den Stationen gut. Auch entlang der Strecke sitzen viele Anwohner und feuern mit Heja-Heja-Rufen die Läufer an. Ein wichtiger Pluspunkt bei den Verpflegungsstationen ist der Wachsservice. Ich verliere permanent an Gripp, weil der aggressive Schnee ihn rasch abnutzt. Insgesamt muss ich die Steigzone vier Mal nachwachsen lassen. Meine Gleitzonen vorne und hinten sind demgegenüber super. Das Schnee-Kokain funktioniert ganz ordentlich.


    Erst gegen Ende des Laufs, bei der letzten Station in Eldris nach 81 Km, bin ich wirklich sicher, dass ich nicht aus dem Rennen genommen und das Zeitlimit von 12 Stunden schaffen werde. Dennoch fallen mir die letzten 9 Km schwer. Ich bin froh, dass ich den Diagonalschritt laufen kann. Mit der vorhandenen Rest-Aufmerksamkeit scanne ich in der hereinbrechenden Dunkelheit permanent die Strecke und die Läufer vor mir ab. Jetzt bloß nicht am Ende hinfallen und nicht weiterlaufen können. Es klappt. Ich halte noch eine Geschwindigkeit von 9,2 Km/h.


    Am letzten Kilometerschild bleibe ich stehen und hole das Handy raus. Will es fotografieren und Bea anrufen. Aber der Akku ist alle. Die Lauf-App muss alles aufgefressen haben. Schade, gerade jetzt hätte ich es gut gebrauchen können. Im Ziel freue ich mich dann doch sehr, dass es geklappt hat. 90 Km in 10 Stunden und 28 Minuten. Bin 9.745ster geworden. 12678 haben schließlich das Ziel erreicht. Die Organisatoren haben also knapp 2000 Läufer aus dem Rennen genommen. Am nächsten Tag werde ich erfahren, dass es auch etliche aus meiner Reisegruppe erwischt hat, obwohl das Zeitlimit um eine Stunde auf 13 Stunden erhöht wurde. Ein Mitstreiter wurde noch in Eldris, nach 90% absolvierter Laufstrecke, in den Bus gesetzt.


    Nachdem ich geduscht und mir mein Diplom abgeholt habe, suche ich den Bus. Aber ich kann ihn nicht finden. Mir dämmert wieder, dass da am Morgen doch was war. Änderung des Abfahrtortes! Da das Handy nicht funktioniert, kann ich auf der abfotografierten Karte nicht nachsehen. Kann auch niemanden anrufen oder angerufen werden. Irre ziemlich fertig in Mora herum und suche einen unserer Busse. Erfolglos. Setze mich irgendwann in einen McDonalds-Laden und kann die skeptische Bedienung schließlich überzeugen, mir ein Taxi zu rufen. Es kommt aber nicht. Trotz zwei weiterer Anrufe. Drei Stunden lang hocke ich dort. Mittlerweile ist es nach 23 Uhr. Endlich sitze ich in einem anderen Taxi, das die Bedienung wahrscheinlich gerufen hat, damit der komische Mann endlich aus dem Schankraum verschwindet. Ich verhandele mit dem Fahrer, dass das restliche Geld, das ich dabei habe, reichen muss. Ein heikler Punkt aber schließlich fährt er mich. Nach Mitternacht erreiche ich das Hüttendorf in Rättvik. Gegen ein Uhr nachts liege ich endlich im Bett. Ich war volle 24 Stunden auf den Beinen und fühle mich entsprechend.



    Montag, 3. März 2014: Die Rückreise
    Um 6:45 ist Abfahrt nach Stockholm-Arlanda. Gerädert aber glücklich über meine Zielankunft tausche ich mich mit den anderen aus. Das ganze Spektrum ist vertreten: Von starken Platzierungen (112ter Platz) bis zum erzwungenen Rennabbruch ist alles dabei. Gegen 11 Uhr löst sich die Gruppe am Flughafen auf und jeder steuert seine Maschine an. Meine geht erst um 17:20 Uhr. Entschließe mich spontan, mit dem Arlanda-Express in 20 Minuten nach Stockholm zu fahren und dort spazieren zu gehen. Seit diesem Tag weiß ich auch, dass die Palastwache vor dem Schloss im Winter mit weißen Fellmützchen paradiert. Ist doch auch was. Während ich in einem Café Kuchen esse, versuche ich für mich ein Fazit zu ziehen. Ich denke, für mich war es eine einmalige Sache. Dieser Lauf kann nur mit intensivster Vorbereitung überstanden werden. Man wird aber nicht wirklich belohnt: Ich bin tendenziell über den Lauf und die Organisation enttäuscht. Keine Loipen für die hinteren Läufer, keine Nettozeit, Chaos am Start, irreguläre Bedingungen am Berg für alle ab Startreihe drei, zu wenig Verpflegungsstationen, keine automatische Zusendung der Urkunde, kein Gimmick für die Starter (noch nicht mal ein Duschgel oder irgendwas), keine Medaille für alle im Ziel (nur für die, die eine bestimmte Zielzeit haben – 50% über der Siegerzeit, also 2014 ca 6 Stunden 20 Minuten). Für die, die den Lauf eigentlich „tragen“ – die Masse der Volksläufer – wird ziemlich wenig getan. Mein Eindruck deckt sich mit vielen Aussagen von erfahrenen Ski-Volksläufern auf der Reise. Offensichtlich wird man als Volksskilangläufer wohl fast überall sorgsamer unterstützt als beim Vasalauf. Es war für mich eine Erfahrung, aber damit ist es auch gut.


    Und eine Moral habe ich auch, jedenfalls für mich: Niemals allzu blind auf das Handy verlassen. Die wichtigsten Fakten auch oldschoolmäßig auf Papier notieren. Zumindest im Ausland.

  • ganz großen Respekt vor dieser vollbrachten Leistung!!! Nicht nur der Wettkampf für sich, sondern auch die ganze Vorbereitung. Ganz stark!!!
    Der Bericht dazu...erste Sahne :D schön zu lesen...solche Geschichten schreibt nur der Sport :dance:


    Schade, dass der Lauf, dann doch kein schöner Volkslauf ist.


    Hattest du nach den 90km dann gar keine Probleme mit deinen Füßen wie in der Vorbereitung?


    Grüße aus Jena
    Max :D

  • Beeindruckender Bericht! Respekt!!
    Ich finde nur den Abschluss traurig: keine Medaille, keine Rückfahrt im Mannschaftsbus. Naja, vielleicht hast Du dafür das Rezept von der Blaubeersuppe mitgebracht. ;)


    Irgendwie hat mich natürlich die ganze Aktion angefixt.
    Als Studentin (lange her) hatte ich mich aufgrund der Überredungskunst eines Freundes zur Ski-Kammwanderung (von Oberwiesenthal nach Johanngeorgenstadt) über 63 km (allerdings an 2 Tagen) angemeldet.
    Mit geborgten Skiern, noch nie auf Langlaufbrettern gestanden, habe ich kläglich nach dem ersten Wettkampftag aufgegeben.
    Aber Lust hätte ich schon, aber nur mit einer entsprechenden Vorbereitung. Dieses Jahr ist er Mangels Schnee abgesagt worden.

  • Hey Nikolaus, WAS FÜR EIN BEEINDRUCKENDER BERICHT!!! :W


    Nein, vielmehr WAS FÜR EINE LEISTUNG !!! :W
    Sowohl der Lauf aber vor allem die Vorbereitung!!!


    Meine Anerkennung, dass Du Dich da nicht schon nach den Riesenblasen von Deinem Vorhaben verabschiedet hast, eine Riesen-Motivation!! Du hast den Bericht sehr anschaulich geschrieben... da habe ich schon mehrfach "autsch" gedacht...
    Mir war es fast peinlich, ihn gemütlich auf der Couch "lümmelnd" zu lesen... ;)


    Ja, wirklich schade, dass es dann nicht die soooo stark verdiente Medaille für alle gibt!!
    Die Leistung kann Dir aber keiner nehmen!! Wie geht der Spruch doch gleich: Der Schmerz geht, DOCH DER RUHM BLEIBT !


    Gute und wohlverdiente Erholung, bevor es ja ganz bald schon an die läuferischen Herausforderungen geht! Viele Grüße!
    Kerstin

  • Wie kommt man nur auf die Idee, 90km in einer Sportart zurückzulegen, die man nicht beherrscht. :?


    Übrigens: Auf festgetretenen Schneeflächen ohne Loipe kann man super skaten. ;)


    Ich nehme an, deine Oberarme haben sich inzwischen fast verdoppelt. ;)


    Und in Sachen fehlender Anerkennung immer daran denken:
    Der eigentliche Preis ist nicht das, was wir dafür bekommen, sondern das, was wir dadurch werden :!: