Jeden Tag Laufen 2009. Gedanken kurz vor dem Ziel.
Prerow, 28. Dezember 2008: Entsetzen. Letzte Reste meiner agilen Sportlichkeit scheinen gemeinsam mit meiner Jugend endgültig verschwunden zu sein. Leider habe ich die Anzeichen hierfür zu lange ignoriert. Fühle mich nun unfit und moppelig. Ich betrachte mich im Badezimmerspiegel. Vor mir steht eine Mischung aus Dirk Bach und Knut. Betäubt von diesem Anblick rutsche ich in die Badewanne und fasse einen Entschluss: mehr Laufen! Vor allem aus ästhetischen Gründen. Mein Körper antwortet auf die erste längere Joggingrunde seit langem mit Muskelkater. Trotzdem laufe ich tags darauf und am dritten Tag wieder. Der Schmerz geht, der vierte Tag kommt: Sylvester. Sechs Milliarden Menschen wollen 2009 irgendetwas besser machen. Ich auch. Beschließe, am Berliner Halbmarathon im April teilzunehmen und bis dahin jeden Tag zwischen 0 und 24 Uhr mindestens 20 Minuten zu laufen. Habe kurz zuvor etwas über Streakrunner gelesen, die machen das auch so, einige sogar über Jahrzehnte. Ob das klappen kann? Bin noch nie mehr als eine Woche jeden Tag gelaufen. Einem so ambitionierten Sportprogramm habe ich mich auch in meinen guten Zeiten nicht gestellt. Aber das macht ja auch nicht jeder und ich befürchte, dass ich einen Hang für das Besondere habe.
Das erste Vierteljahr: Enthusiasmus. Nehme schon am 4ten Januar an einem 10-km-Lauf in Wilmersdorf teil. Denke, dass ich wissen sollte, wo ich aktuell stehe und renne knapp 50 Minuten. Damit belege ich einen der letzten Plätze in meiner Altersklasse. Da stehe ich also, ich wollte es ja wissen. Aber schon am nächsten Morgen laufe ich wieder, der Ehrgeiz ist geweckt. Das tägliche Laufen gelingt vom Fleck weg leichter als gedacht. Kann den Elan der Urlaubstage mitnehmen und die 20-Minuten-Regel erweist sich als goldrichtig, die Schwelle zum täglichen Sich-aufraffen ist damit niedrig genug. Meistens laufe ich morgens zwischen 6 und 7. Das klappt auch im Winter ganz gut. Richtig dunkel ist es im Prenzlauer Berg ohnehin nie. Es fehlen früh nur die Menschen, die stehen hier generell später auf. Prima, die selbstvergessen herumflanierende Kiez-Bohéme stört sowieso nur auf den Gehwegen. Langeweile kommt mit iPod erst mal keine auf. So glückt der Anfang, ich laufe im ersten Monat tatsächlich 31mal. Meine größte Sorge bewahrheitet sich nicht, körperliche Überlastungsreaktionen bleiben aus – trotz einiger Kilos zu viel. Habe weder „Knie“ noch „Achillessehne“ oder „Rücken“. Auch im Februar bleibt es dabei: Mein Körper reagiert gutmütig auf die plötzliche Belastung und ich gewöhne mich nun an den Gedanken, gesund zu bleiben. Ab März pendelt sich langsam meine Standardrunde ein. Ganz grob: Helmholtzplatz – Mauerpark und zurück. Das sind je nach Schlenker zwischen 25 und 45 Minuten. Aber alleine laufen wird nun doch langweilig. Tauche wieder häufiger bei den FH Runners auf. Im Internetforum der Laufgruppe gebe ich mir den Namen Laufbär. Ich finde, das passt.
Das zweite Vierteljahr: Ernüchterung. Am 5ten April erreiche ich nach 21,1 K das Halbmarathonziel in guter Zeit. Bin enthusiastisch und beschließe, das tägliche Laufprogramm bis einschließlich September auszudehnen und am Berlin-Marathon teilzunehmen. Melde mich im Internet an. Dort finde ich auch einen Umrechner, der mich nach Eingabe der Halbmarathonzeit wissen lässt, wie schnell ich den Marathon laufen werde. Dolles Ding! Kann die Endzeit kaum glauben. Bin aber vorsichtiger mit der Prognose und gebe mir einen Sicherheitszuschlag. Meine Marschrichtung: dreieinhalb Stunden. Der April klingt aus, es kommt der Mai. Manchmal schaffe ich es in der Woche morgens nicht aus dem Haus. Dann verlege ich das Laufen auf den Abend. Mitte Mai geht es nach Thüringen. Will wenigstens einmal auf dem Rennsteig laufen. Ich wähle den Halbmarathon von Oberhof nach Schmiedeberg. Am Ziel bin ich enttäuscht. Bekomme keine Medaille, die gibt es nur für die Marathon- und Supermarathonläufer. Echter Held ist nur, wer morgens um sechs Uhr ab Eisenach den langen Kanten über 73 Km angeht. Der Halbmarathon ist lediglich Rahmenveranstaltung, das, was andernorts der Fun-Run ist. Nehme mir vor, 2010 den Supermarathon zu laufen! Der Juni beginnt am Pfingstmontag, und endet an einem ganz normalen Dienstag. Dazwischen bin ich regelmäßig unterwegs. Allerdings treten erste psychische Ermüdungserscheinungen auf. Denke: Brauche vielleicht mehr Wettkämpfe als Zwischenmotivation. Melde mich in der nächsten Zeit ziemlich wahllos hier und dort an. Ich erwische ein paar schöne Läufe, z. B. die 5x5-Km-Teamstaffel im Tiergarten, den Liepnitzseelauf (FH Runners Berlin gewinnen die Staffel!) oder den Nachtlauf von Wittenau. Manchmal sind aber auch gruselige Episoden dabei. So gerate ich beispielsweise in den Sky Run, in der alle am Alexanderplatz 39 stickig-enge Stockwerke hoch hasten müssen. Unten bellt eine Moderatorin unverständliches Gedöns in ihr Mikrophon. Bin froh, als ich endlich loslaufen darf. Oben nach fünf Minuten angekommen, pumpe ich wie ein Kugelfisch. Die Hotelgäste glotzen uns an wie Tiere im Zoo. Ziemlich würdelos das ganze. Ende Juni kommt dann eine ziemliche organisatorische Herausforderung auf mich zu. Besuche die Fusion, ein Festival für elektronische Musik. 60.000 Menschen, die zelten, tanzen und grillen. Die Hygiensituation ist prekär. Duschen Mangelware. Und ich muss mein Tagespensum trotzdem schaffen, zweimal sogar! Gibt es für einen dicken alten Mann uncooleres, als zwischen 20jährigen Festivalbesuchern zu joggen? Egal, ich mach´s trotzdem. Am Tag meiner Anreise stirbt übrigens Michael Jackson. Auf jedem Sender Schmonzetten bis zum Abwinken. Bin froh, dem für zwei Tage entkommen zu können. Dafür dusche ich mich auch schon mal notdürftig am Auto mit Vittel. Die Serie reißt nicht. Yes!
Das dritte Vierteljahr: Verzweiflung. Im Juli drängt sich mein Motivationsproblem zunehmend in den Vordergrund. Das kann ich mir rational gar nicht erklären, wo sich doch gerade in den hellen und warmen Sommermonaten selbst die Bewegungslegastheniker auf die Socken machen. Wie auch immer: Ich kann Stargarder, Gleim-, Schwedter, Kollwitz- und Dunckerstraße langsam nicht mehr sehen! Immer öfter hege ich den Gedanken, dass ein halbes Jahr tägliches Laufen doch eigentlich genug sei. Eine kleine Verletzung käme mir nun gerade recht. Aber ich bleibe gesund. Hurra. Habe morgens immer seltener Antrieb, zum Laufen aufzustehen. „Nicht schon wieder!“ - der zentrale Satz in meinem Hirn. Abends dann doch das schlechte Gewissen. Also laufe ich wieder. Manchmal schaffe ich es aber nur gerade eben noch. Dann bin ich erst nach 23 Uhr auf dem Weg. Zu meinem Glück hat sich schon ein Automatismus eingeschliffen. Es kommt vor, dass ich eben noch im Flur überlege, ob ich die Serie abbrechen soll, und im nächsten Moment schon in Turnschuhen auf der Straße stehe. Ein dreifach Hoch auf das Rückenmark! Und auf Beatrice, die mich - Gott sei dank - mehr als einmal aufscheucht... Nach diesem ziemlich schrecklichen Juli kommt mit dem August endlich der Urlaub. Freie Zeit! Raus aus Berlin! Neue Laufstrecken! Erst fünf Tage England, danach zehn Tage Spanien. In London laufe ich jeden Morgen bei bestem Wetter in Kensington Gardens und im Hyde Park. Viele neue Eindrücke und vor allem: Weit und breit keine Gleimstraße! Der Spaß am Laufen kehrt zurück. Schon der Blick aus dem Airbus-Fenster kurz vor Jerez lässt aber erahnen, dass die Bedingungen in Andalusien schwieriger sein werden: überall von der Sonne verbrannte Felder. Der kleine Badeort an der Küste ist erkennbar auf Laufsport nicht eingestellt. Eine schattige Strecke im Landesinnern finde ich trotz viel versprechenden Kartenmaterials nicht, was daran liegt, dass der Begriff Wald in Deutschland und Spanien ganz offenbar sehr unterschiedliche Inhalte hat. Also trabe ich in früher Morgen- oder später Abenddämmerung den Strand entlang. In der übrigen Zeit ist es mit rund 40 Grad zu heiß. In den letzten Tagen des Urlaubs, freue ich mich schon auf meine Ostberliner Stadtrunde. Ach, Gleimstraße, Dunckerstraße und auch Du, Stargarder! Ihr Perlen der gemäßigten Klimazone! Nie wieder ein schlechtes Wort über Euch! Das dritte Vierteljahr endet mit den September-Lauftagen, die im Zeichen des Berlin-Marathons und der Bundestagswahl stehen. Die Zeit seit dem misslungenen Laufurlaub ist knapp. Bis zum Start des Marathons am Morgen des später sehr warmen 20ten Septembers gelingt es mir wenigstens, eine eben ausreichende Zahl an langen Läufen zu absolvieren. Schließlich bewältige ich die 42,2 Km knapp acht Minuten über meinem Plan aus dem April. Ziel verfehlt, trotzdem zufrieden. Ohne die Begeisterung der Zuschauer hätte das so nicht geklappt, vor allem ab Fehrbelliner Platz. Auf dem Ku´damm bekomme ich gravierende muskuläre Probleme in den hinteren Oberschenkeln. Als hätte da jemand eine Feststellbremse angezogen. Muss sogar zweimal kurz dehnen, bevor ich weiterlaufen kann. Später bleibe ich im Zielbereich in Gedanken auf der Wiese vor dem Reichstag in der Sonne sitzen. Dieser Lauf ist in diesem Jahr definitiv mein Highlight, gerade weil ich mich trotz Krise während des ganzen Sommers und auf dem letzten Viertel des Marathons bei großer Wärme doch so ordentlich durchgewurschtelt habe. Bin stolz auf mich. Nun will ich die Laufserie bis zum Ende des Jahres ausdehnen. Bin schon so weit gekommen. Der Rest muss auch noch zu schaffen sein. Bereits am 21ten September geht es also weiter. In früheren Jahren habe ich nach dem Marathon tagelang gar nichts gemacht. In 2009 schreibe ich am 21ten September unter "Laufen" in das Trainingsbuch: "abends 32 min + Dehnungen - anstrengend". Andere Zeiten, andere Kalendereinträge. Ob mir das aber Ende des Jahres der zweifelnde Jan auch glauben wird? So ganz ohne Zeugen? Ohne notarielle Beurkundung? Tja. Fragen über Fragen. Das Thema Vertrauen aber eher ein Problem des Zweiflers. Derweil laufe ich einfach mal weiter.
Das letzte Vierteljahr: Selbstgewissheit. So unerklärlich wie im Sommer die Motivationskrise kam, so unspektakulär schleicht sie sich aus. Je dunkler und kälter die Jahreszeit wird, desto besser geht es meiner Lauflaune. Faszinierend. Ende Oktober findet in der City Ost der 10-km-Light Run statt. Wachse über mich hinaus. Bin so schnell wie seit Jahren nicht. Habe mich seit dem Januar-Lauf praktisch um fast eine Minute pro Monat verbessert. Im November schnieft und hustet alles um mich herum, was sich bewegt, besonders in U- und S-Bahn. Mir geht es nach wie vor gut. Trotzdem fürchte ich nun doch eine Grippe, denn die würde meine schöne Serie zerstören. Fahre öfter mit dem Auto zur Arbeit, um mich nur ja nirgendwo anzustecken. Ob ich gar ein wenig neurotisch werde? Lasse mich auch deshalb zum ersten Mal im Leben impfen. Danach nutze ich die BVG wieder entspannter und muss hinterher über mich selbst lachen. Ende des Monats nehmen die FH Runners Berlin an einem Mannschaftshalbmarathon am Britzer Garten teil. Von sechs Mann müssen fünf ankommen. Wir bleiben mit zwei Mannschaften jeweils ein halbes Dutzend bis zum Ziel. Jeder achtet auf jeden, sogar um die Sorgenkinder wird sich gekümmert, schöne Erfahrung. Dann ist Dezember. Ich kann es kaum glauben, das Jahr ist geschafft. Die einzelnen Tage fallen immer leichter. Klar, es wird ja auch immer dunkler und kälter. Meine Zeit! Und Sylvester werde ich wieder in Prerow am Strand traben. Wie vor einem Jahr.
Fazit. Bin 2009 bis heute jeden Tag mindestens 20 Minuten gelaufen und habe dabei einige Kilos verloren. Bin an meine Grenzen gegangen, habe mich gequält und mir am Ende doch selbst ein ganz besonderes Jahr zum Geschenk gemacht, an das ich noch lange zurückdenken werde. Wichtigste Erkenntnis: Habe Ziele und verfolge sie! Mein persönlicher Song des Jahres: „Beautiful burnout“ von underworld. Ob ich weitermache? Auf jeden Fall bis 31.12.2009! Und danach? Na ja, bald ist Rennsteiglauf!